Henstedt-Ulzburger Nachrichten

Flüchtlinge als Nachbarn? „Man muss nicht immer alles schlechtreden“

Barat Amiri und Reza Rezai aus Afghanistan mit Flüchlingskoordinator Wenzel Waschischek

Gelebte Aktualität zum Flüchtlingsthema in einem kleinen Büro im Henstedt-Ulzburger Rathaus. Hier erklärt Sozialarbeiter und Flüchtlingskoordinator Wenzel Waschischeck zwei jungen Leuten aus Afghanistan gerade, wie sie zum Besichtigungstermin eines Hauses kommen, in dem sie (hoffentlich) demnächst wohnen werden. Es sind Reza Rezai (18) und Barat Amiri (27) aus Afghanistan, die nach ihrer Flucht hier Unterkunft und Betreuung gefunden haben. Eine Flucht in Etappen, die für Reza fast drei Monate gedauert hat und für Barat sechs Wochen. Er war mit seiner schwangeren Frau und seiner kleinen Tochter geflohen und hofft jetzt auf ein Berufspraktikum als Tischler in Norderstedt. Reza dagegen hat ganz präzise Vorstellungen, wie sein Leben hier weitergehen soll; Er will weiter zur Schule nach Neumünster gehen, um dort sein Abitur zu machen, weil sein afghanisches Abitur hier nicht anerkannt wird. „Und dann möchte ich Medizin studieren und Arzt werden.“ Fast flehend bittet er Wenzel Waschischeck, ihn nicht irgendeine Ausbildung machen zu lassen oder zum Arbeiten einzuteilen. Das würde seine Pläne total zerstören.

Waschischeck hört sich alles an, nickt beruhigend und gibt Tipps, wie sie sich bei der Besichtigung verhalten sollen. Was überrascht, ist ihre Höflichkeit in den Umgangsformen, was auf eine gute Erziehung schließen lässt und zeigt, wie bereit sie zur Anpassung an hiesige Erwartungen sind. Dabei war es purer Zufall, dass gerade diese jungen Männer zu Anfang des Interviews aus amtlichen Gründen dabei waren.

Und wie kam es zu der zeitnahen Wohnungsbesichtigung? „Wenn die Geflüchteten dem Kreis zugewiesen werden, haben sie bereits den Status für eine Aufenthaltsgenehmigung. Trotzdem gibt es nach der ersten Unterkunft immer große Schwierigkeiten, diese Menschen privat unterzubringen. Die Mietobergrenze für eine hiesige Wohnung beträgt 620 Euro. Bis jetzt wohnte Reza noch in einer größeren Unterkunft mit vielen jungen Männern zusammen. „Wenn sie Arbeit bekommen, wird der Lohn gegen das Geld von der Stadt gegengerechnet.“ Dass die Olzeborchschule so viele Flüchtlingskinder zum Unterricht in der 7. Klasse aufgenommen hat, findet Wenzel Waschischeck ganz super und lobt diese Geste als Schritt in die richtige Richtung.

Natürlich weiß er aber auch um die Stimmung der Mieter, die zusehen müssen, wie der freie Wohnraum in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft fast ausnahmslos an die Flüchtlinge vermietet wird. „Aber ich stehe gerade mit den Gegnern dieser Maßnahme in Kontakt und habe festgestellt, dass diejenigen mit den großen Vorurteilen dann bei näherer Betrachtung der Situation gar keine mehr haben. Steht ein Einzug bevor, werden die Mieter rechtzeitig darauf vorbereitet. Erwartet werden dann Familien in drei Generationen, denen 80 qm Wohnfläche mit drei und vier Zimmern zur Verfügung stehen.“ Wenn die Nachbarn Bescheid wissen, dass hier ein Einzug bevorsteht, dann zeigen sich die meisten Menschen hilfsbereit und freundlich.“

Was die Siedlung am Beckersbergring betrifft, (von 400 Flüchtlingen in Henstedt-Ulzburg sind dort 200 untergebracht), so hat sich die allgemeine Situation längst wieder beruhigt. Da war zunächst von einem Ghetto die Rede. Und immer wieder es soll es Klagen wegen Müll, Lärm und lauter Musik am Abend gegeben haben. „Aber wenn man sich mal vorstellt, dass die meisten Flüchtlinge noch keine Arbeit oder Beschäftigung haben, den ganzen Tag ohne Perspektive sind, dann ist das schon etwas, das wir uns nicht wünschen. Und deshalb wird eben auch morgens so lange wie möglich geschlafen, weil erst am Abend das Leben beginnt, wenn alle nach ihren Behördengängen wieder zu Hause sind. Das brauchen sie. Aber wir machen sie natürlich auch darauf aufmerksam, dass sie sich anpassen müssen. Ich habe Kulturwissenschaft studiert. Da reicht oft schon der gesunde Menschenverstand, um diese Situation zu verstehen. Und natürlich ist es klar, dass wir unsere kulturellen Standards bewahren sollten, vor allem die guten. Aber es wäre schön, wenn wir uns auch ein wenig in diese Menschen nach Flucht und Verlust ihres bisherigen Lebens hineinversetzen könnten.“

Allein in diesem Jahr sind bisher 2000 Menschen auf dem Weg zu uns ertrunken, die Dunkelziffer ist wesentlich höher. Auf einer Fachtagung in Kiel erfuhr Waschischeck, dass 60 Prozent der Menschen durch die Erlebnisse auf der Flucht traumatisiert sind. Leider müsse man sich zunächst aber iimmer erst um die körperlichen Krankheiten der Geflohenen kümmern. Und nur deshalb kann es passieren, dass die Betroffenen in bestimmten Situationen, die auf der Flucht fast tödlich endeten, total durchdrehen vor Angst. Deshalb wäre es schön, wenn wir uns alle ein bisschen sensibilisieren könnten im Umgang mit den Flüchtlingen, die nicht nur alles verloren haben, sondern sogar den Tod ihrer liebsten Angehörigen ertragen mussten

80 Prozent von ihnen möchten übrigens wieder zurück in ihre Heimat, sobald es irgendwann möglich sein wird. „Aber wenn wir erst mal drei bis fünf Jahre investieren, dann wird es ein Gewinn sein, diese Menschen bei uns zu haben – auch dank all der vielen Ehrenamtlichen und des Willkommensteams, die sie unterstützen. Dann wird der Impuls so positiv sein, dass er sich auch auf den Arbeitsmarkt auswirkt.“ Da sagten ihm zum Beispiel Personaler von Bäckereiketten, dass sie ein Riesenproblem mit deutschen Nachwuchskräften hätten, dass sich aber gerade die jungen Leute unter den Flüchtlingen höchst geschickt in diesem Gewerbe angestellt hätten. Und das sei nur ein Beispiel von vielen.“

Man unterteilt die Geflüchteten in solche mit guten Bleibeperspektiven, sehr guten – und gar keinen. Die sind auf fünf Länder beschränkt: Syrien, Irak, Iran, Somalia und Eritrea. Gut 50 Prozent haben eine Bleibeperspektive, denen Leistungen wie z.B. VHS-Bildungsperspektiven zustehen. Afghanistan galt anfangs als sicher, aber inzwischen gibt es dort auch Krieg. Deshalb dürfen sie bleiben. Das Ehrenamt ist da sehr fleißig, so dass auch die Neuankömmlinge die ganze Woche über Sprachunterricht erhalten Zum Schluss seufzte Wenzel Waschischek, der nichts unversucht lässt, um seinen Schützlingen zu helfen: „Man sollte eben nicht immer alles schlechtreden.“

Gabriele David

25. August 2016