Geschichten, die das Leben schrieb – im „Erzählcafé“ werden sie wieder lebendig

Nicht nur in Großstädten, auch im kleinen Henstedt-Ulzburg gibt es ein  Erzählcafé – aber was ist das eigentlich? Dieser Begriff hat sich in Form einer Institution bereits in Frankfurt, Berlin, München und Ulm etabliert. Und ist entstanden aus der Praxis der Erinnerungsarbeit und des biografischen Erzählens.. Unter dem Dach des Vereins „BürgerAktiv“ hat Annemarie Wenk vor vier Jahren „ihr“ Erzählcafé ins Leben gerufen, gleich nach dem Erscheinen des Buches „Wir in Henstedt-Ulzburg“,  und seitdem regen Zuspruch erhalten – von außen und natürlich vor allem aus den Reihen ihrer aktiven Teilnehmer.

Ziel eines solchen Gesprächscafés ist eine offene Gesprächsrunde  mit Menschen verschiedenen Alters, die beim Erzählen ihrer Erlebnisse ihre persönlichen  Erinnerungen wieder aufleben lassen und gleichzeitig von den Erfahrungen der anderen Gesprächsteilnehmer profitieren. Die Themen werden dann unter dem Aspekt „Gestern – Heute –  Morgen“ in der Gruppe aufgearbeitet.

Zum 44. Mal trafen sich die „Kandidaten“ an diesem Abend in der Kulturkate, immer am dritten Mittwoch eines Monats um 19 Uhr. Unter den 43 vorangegangenen Themen standen solche wie „Erste Reise“, „Tischkultur“, „Unsere Schulzeit“,  „Mobilität in den 60er Jahren“, „Sinn oder Zufall“ und „Beim Friseur“ ganz oben auf der Beliebtheitsskala. Und auch diesmal steht wieder ein Thema wie ein Sahnestückchen im Mittelpunkt: „Nachbarschaft“. Sofort fallen einem dazu mindestens ein Dutzend mehr oder weniger schöne Geschichten ein. Aber hier haben ja nun die anderen das Wort.

Annemarie Wenk teilt sich die Gruppenleitung des Erzählcafés mit Annemarie Winter. Und sie ist damit einverstanden, dass sich einige Teilnehmer am liebsten schriftlich auf das Thema vorbereiten.  So liest Renate Frodermann vor, wie sie ihre Kindheit und Jugend in St. Pauli verbrachte, bevor sie über Barmbek und Langenhorn schließlich im friedlichen Henstedt-Ulzburg landete. Nicht nur, dass die Nachbarn dauernd im Fenster hingen und sie beobachteten, wann sie mit ihrem Freund fort ging, nach Hause kam und wie lange er blieb. Aber es ging auch anders, als sie als kleines Mädchen im Treppenhaus von einem Sittenstrolch überfallen wurde. Da hatte ihr Schreien sofort eine Nachbarin alarmiert, die den Lüstling rabiat in die Flucht schlug. Eine andere Nachbarin dagegen fühlte sich von allem gestört: mal war der Fernseher zu laut, mal die Waschmaschine. Es gab immer einen Grund, sich zu beschweren. Als ihre Familie in Henstedt-Ulzburg ein kleines Reihenhaus erwarb, brachte der Bau eines Carports zwar auch Unfrieden, „aber die Siedlungsfeste waren immer sehr schön.“ Echte Nachbarschaftshilfe wurde ihr zuteil, als ihr Mann starb. „Da trauerten sie mit mir und nahmen mich in ihre Mitte, halfen im Garten, wo sie konnten, bis mein neuer Partner kam, der diese Arbeiten wieder übernahm.“

„Bei uns war das ganz anders“, erzählt Helga Warkotsch. „Ich erinnere mich vor allem an die Nachbarn aus der Nachkriegszeit. Immer wenn Post kam, waren die froh, die keine bekamen, denn es stand ja leider nie etwas Gutes im Brief.“ Ausgebombt in Hamburg, zog ihre Familie in die Kadener Chaussee, nahe einem großen Bauernhof. „Meine Mutter hatte Beziehungen zu Lebensmitteln, und wenn sie Tassen brauchte („Ham wir nicht!“), öffnete sie ihre Tasche mit Speck und Wurst – und schon bekam sie ihre Tassen. Und weil es damals noch kein Fernsehen  gab und überhaupt keinerlei Abwechslung, gingen wir Kinder gern rüber auf den Hof, weil es da immer so gemütlich war.“ Man hat sich gegenseitig ausgeholfen, hat mal was für jemanden genäht, der es brauchte, und bekam auf andere Art wieder etwas zurück.

„Die ersten zwölf Jahre haben wir in der Reumannkate gewohnt,“, erinnert sich Margrit Löhr. „Und da hatten wir eine wunderschöne Kindheit. Wir waren drei Familien mit neun Kindern, die sich das Haus mit den winzigen Zimmern teilen mussten.  Für uns Kinder spielte sich fast alles draußen ab. Und die Familien haben sich untereinander sehr gut verstanden.“

Annemarie Wenk, die sechseinhalb Jahre in Hannover lebte, freute sich, als sie endlich aufs Land nach Hensted-Ulzburg zogen. Da begann meine glückliche Kindheit!“ Eine andere Dame erinnert sich daran, wie oft in den engen Wohnungen gefeiert wurde. Plattenspieler gab es ja schon, und es wurde viel getanzt – bis hinein ins Treppenhaus. „Da hat man noch miteinander geredet.“ Und wie oft hat man abends beim Nachbarn in der Küche gesessen, während die Männer nebenan Karten spielten. „Alles war so warm und herzlich – und ganz selbstverständlich.“

Und dann reden alle ein wenig durcheinander, als sie die Erinnerung überfällt. Geburten wurden per Fahrrad verkündet, damit die Nachbarn sofort Bescheid wussten. „Und wenn ein Kind geboren wurde – damals ja noch zu Hause –, kam das erste Essen von den Nachbarn.“ Briefkästen gab es nicht. Post und Zeitungen wurden in den meist offenen Flur geworfen.

Auf dem Land trafen sich die Frauen zum Handarbeiten. Unvergessen auch „die halben Türen“, unten geschlossen, oben offen, die den unverzichtbaren Nachbarplausch unterstützten. Und dann das erste Telefon – eine Sensation! Wer es besaß, hatte plötzlich viele Freunde. Die dauernd angerufen wurden und geholt werden mussten.  Genau wie beim ersten Fernseher: „Die Bude war immer voll! Aber dafür haben wir auch alles andere geteilt.“ Einmal hatte der Sturm eine Tanne umgeknickt. Da kam bei strömendem Regen doch nachts noch der Nachbar mit der Säge vorbei: „Ich schneid Ihnen das mal eben ab.“

Die Kinder wurden gegenseitig betreut, und es wurde ja auch viel mehr draußen gespielt. „Wir hatten jede Menge Spielkameraden vor der Tür!“ Annemarie Wenk hatte  alle Freiheiten zum Spielen „Es war ja auch noch nicht so viel Verkehr. Da hatten die Eltern keine Angst. Und wenn wir spielten, warf eine  Mutter ihrer Tochter mittags immer Brote aus dem Fenster. Dann musste sie nicht zum Essen reinkommen.“ Eine andere bedauerte die Kinder, die damals schon in einem der wenigen Kindergarten waren. „Bei unserer Freiheitsliebe kamen sie uns vor wie Gefangene.“

Das Thema Nachbarschaft hat bis heute einen ganz besonderen Stellenwert. Die meisten Erinnerungen sind positiv wie der gegenseitiger Heckenschnitt und kleine Tabletts in den Büschen, damit die Frau des jeweiligen Hauses ihr Glas beim Klönen abstellen konnte. Aber es kamen auch die aktuellen Ärgernisse zur Sprache wie kaputte Zäune, vermüllte Gärten, überhängende Zweige und  weggeflexte Grenzsteine sowie aggressive Baumwurzeln auf dem Nachbargrundstück. Aber das wird es immer geben – und tut dem allgemein guten Ruf der Nachbarschaft keinen Abbruch.

Im August macht das Erzählcafé eine Pause. Aber am 19. September sind alle wieder herzlich eingeladen, um 19 Uhr in die Kulturkate zu kommen. Neues Thema: „Verliebt, verlobt, verheiratet“.  Wer sich mit Annemarie Wenk in Verbindung setzen möchte, erreicht sie unter der Rufnummer 04193/91779.

Gabriele David

4. August 2012

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